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Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die Literaturwerkstatt Berlin und die Stiftung Lyrik Kabinett präsentieren

Die Lyrik-Empfehlungen des Jahres 2016

Gerd-Adloff_Zwischen-Geschichte-und-September

Gerd Adloff:
zwischen Geschichte und September. Mit Kaltnadelradierungen von Horst Hussel. Corvinus Presse 2015.

»Zwischen Geschichte und September« hat Gerd Adloff diese Gedichte angesiedelt. Nicht zufällig heißt das erste Gedicht des Bandes »Geschichte« und das letzte »September«. Zuerst geht es um weltgeschichtliche Ereignisse - aber der Autor war mit etwas anderem beschäftigt: »Als die Panzer nach Prag rollten, 68 / War ich über alle vier Ohren unglücklich verliebt / Und hörte nichts.« Er musste mit den Folgen leben und sich dazu verhalten -also zur Geschichte. Das letzte Gedicht »September«, kurz nach dem 60. Geburtstag des Autors entstanden, hat mit dem Herbst des Lebens zu tun. Und deutet einen Rückzug an: »Den Nachzüglern viel Glück. / Noch mehr dem Sohn. Verläßt das Haus / in Frieden. Geht seinen Weg. / Meiner verweilt in diesem Garten / in dem ich Gast bin. Gern.« Erinnerungen, erinnerte Gefühlslagen - Szenen aus einem Leben, erlebte und gelebte Geschichte. Freilich ist das Leben mit dem Alter nicht zu Ende, und 60 ist nicht sehr alt. Aber man hat doch einen anderen Blick darauf als junge Menschen. Wenn man dann noch die unmittelbare Gegenwart annehmen kann, ist man ein einigermaßen glücklicher Mensch. Das ist vernünftig und keine Idylle oder Larmoyanz. Ich mag diese Gedichte. Und die Grafiken passen wunderbar. Ein schönes Buch! (Ursula Haeusgen)

Christoph-W-Bauer_stromern

Christoph W. Bauer:
stromern. Haymon 2015.

›Stromern‹ heißt so viel wie ›ziellos wandern, sich herumtreiben (statt zu arbeiten), streunen oder strolchen‹, in Österreich heißt es: ›strawanzen‹. Der aus Innsbruck stammende Dichter Christoph W. Bauer bevorzugt natürlich die erste Bedeutung: die nicht auf ein Ziel hin gerichtete Bewegung. Ersetzt man Bewegung durch Schreiben, hat man die Definition der Poesie, wie sie Paul Valéry gegeben hat. Bauer, 1968 in Kärnten geboren, hat sich als Begleitung für seine sehr unterschiedlichen Wanderungen den französischen Dichter des Spätmittelalters François Villon gewählt, den großen Dichter von Balladen über die Zweifelhaftigkeit des Ruhms, der Ehre, der Anständigkeit. Mit Villon ist er unterwegs in Kärnten oder Paris, in den Welten der Mythologie und der sehr realen Gegenwart. Bauer ist ein belesener Dichter und ein Kenner der Geschichte der Formen, aber auch ein Eulenspiegel, der vermischen und verwandeln kann: »fremd bin ich eingezogen unter meine haut« beginnt ein Gedicht, das mit der Zeile endet: »ich weiß nur eins: fremd zieh ich wieder aus.« Es wäre schön, wenn dieser kluge Vagant bei uns etwas bekannter würde! (Michael Krüger)

Daniel-Falb_CEK

Daniel Falb:
CEK. kookbooks 2015.

»Es gibt keinen Fehler in dem Buch«, heißt es auf der letzten Seite des Bandes CEK. Alle textlichen Schreibweisen seien eben so intendiert. CEK ist ein Lyrikband, wie von einem Außerirdischen verfasst: neugierig, informiert, unbeteiligt und nach einer menschenfernen Logik vorgehend. Doch was er nach seinem eigenen Schema hinein- und herausfiltert, ist höchst interessant und erreicht eine merkwürdige Anschaulichkeit. Es sind Gedichte über die Erde in einem kosmischen Zeitmaß. Sie überspannen Jahrmillionen. Diese Gedichte taugen vielleicht nicht für eine Traueranzeige, aber sie eröffnen eine Bühne sprachlicher Entdifferenzierung, auf der sich genau ablesen lässt, wie Sprache Institutionen herstellt, wie sie Autoritäten installiert, wie sie Wissenschaftlichkeit suggeriert und Beziehungen bewirkt. Dies wird sowohl vorgeführt wie auch mit scheuer Willkür zertrümmert. Und beim lauten Lesen entfalten die Gedichte, insbesondere am Ende des Buches, eine betörende lyrische Qualität, im strikten Sinne, ja. (Monika Rinck)

Swantje-Lichtenstein_Kommentararten

Swantje Lichtenstein:
Kommentararten. Verlagshaus J. Frank 2015.

Der Band bietet Einblicke in das Laboratorium der Swantje Lichtenstein: Sprachkritik, Weltzweifel, Wissenschaftsparodie, nicht zuletzt Humor. In einer Zeit, in der eine Sehnsucht erwacht nach dem ›Originären‹, das unter einem Berg von Kommentaren, von sekundärem Gerede verschüttet zu werden droht, sortiert Swantje Lichtenstein »Kommentararten«, die zeigen, dass auch Poesie, auch Kunst Kommentar ist. Zugleich ist die Poesie selbst wieder »Auslegware«, zieht Kommentare nach sich. Verschiedene poetische Formationen spielen das durch: Im Kapitel »#Sätze_« lassen sich die Wortblöcke als Bilder wahrnehmen, in »#Avatare_« umspielt Lichtenstein als Kommentarmöglichkeiten »Kommos«, »Kommentationen«, »Scholien« und »Interpretament«. »#Neudef_« bietet weichgespülte und doch festgefügte Formeln (»DIE ROYALEN FARBEN PURPUR UND VIOLETT / BESTIMMEN DIESE SCHMUCKSTÜCKE«), denen Lichtenstein fragende, tastende, poetische Antworten gegenüberstellt. In »#Tagen_« dann tritt ein Ich auf, das eigenes Erleben kommentiert. Eine Lese-Anleitung für all das: »Was man dann daraus hervorliest, das nehme man an. / Nehme man ans Herz und lasse es dann / ganz langsam ins Hirn plumpsen. Nicht alles auf / einmal.« (Holger Pils)

Andreas-Neeser_Wie-halten-Fische-die-Luft-an

Andreas Neeser:
Wie halten Fische die Luft an. Haymon 2015.

Andreas Neeser ist kein Freund großer und vieler Worte. Seine Erkundungen im Zwischenmenschlichen, im Naturraum draußen und drinnen, im Kopf des Ichs, sind beeindruckend konzentriert, wirken wie hingetupft und nehmen doch präzise Gestalt an. Man könnte an Aquarelle denken, aber meist düster getönt: »Seit Jahren mein einziger Bruder / kriech ich beim Rastplatz ans Ufer / im fahleren Licht / bin ich nichts als mein dunkelstes Wort.« (»Drei Schwestern«) Im Zyklus »Schichten von Haut« entblättert Neeser kunstvoll die Zwiebelhäute der Erinnerung, die zusammenhängen wie die einzelnen durch einen jeweils weiterwandernden Vers miteinander verknüpften Gedichte. Die Kindheit ist es, die den Erwachsenen im Halbschlaf »bespricht«, die handfest und körperlich wird: »ein paar Krautstiele wachsen mir mundartlich / urlaut | im Gaumen | behauptet die Sprache die Herkunft, / Geruch und Geschmack«. (Daniela Strigl)

Daniela-Seel_was-weisst-du-schon-von-praerie

Daniela Seel:
was weißt du schon von prärie. kookbooks 2015.

Jeder Lyrik, die ihren Namen verdient, wohnt ein kryptisches Element inne, das in dem unbeschriebenen Raum zwischen den Wörtern und Zeilen haust. Man kann dieses Ungesagte, Unsagbare im Idealfall wahrnehmen als Bewegungsenergie.In Daniela Seels Gedichten ist der kryptische Anteil besonders groß, zugleich aber ist die darin wirkende Energie stark genug, um die beim ersten Eindruck hermetisch und spröde anmutenden Texte in Schwingung zu versetzen,ihre Bestandteile in einer Schwebe vielfältiger, sich unablässig umgestaltender Beziehungen zu halten.Mit ebenso sicherem Gespür für Proportionen wie für die Heisenbergsche Unschärferelation werden hier Landschaften erkundet, die in der lyrischen Verdichtung nicht etwa selbstbezügliche Gefühlswelten eröffnen, sondern Territorien eines präzisen, kritischen, ja dezidiert politischen Denkens. was weißt du schon von prärie ist ein Gedichtband, dessen eigensinnige Komplexität den Kopf klärt und das Bewusstsein weitet. (Kristina Maidt-Zinke)

Anne-Seidel_Chlebnikov-weint

Anne Seidel:
Chlebnikov weint. Poetenladen 2015.


Anne Seidel schreibt in Chlebnikov weint die Tradition der russischen Moderne fort. Eisenbahnfahrten durch Sibirien, eine Menge Schnee voller Spuren, die sich wieder auf lösen, aber auch die Sowjethistorie samt ihrer Deportationen und Straf lager bildet die motivische Struktur. Mit einem atmosphärischen, oft klassisch anmutenden Vokabular entsteht in diesen Gedichten ein Bewusstseinsraum, der die logische Struktur der Sprache außer Kraft setzt und stattdessen Brüche, Verkantungen, Öffnungen erzeugt – immer auf der Suche nach einer grundlegenden Stille, von der sich die Wahrnehmungen flüchtig abheben.
»denn nichts / zu verstehen, ist die einzige moeglichkeit, etwas zu verstehen«, heißt es im Eröffnungsgedicht dieses intensiven, hochenergetischen Debütbandes, nach dessen Lektüre man wesentlich besser versteht, was Verstehen sein könnte. (Marion Poschmann)

Armin-Senser_Liebesleben

Armin Senser:
Liebesleben. Edition Lyrik Kabinett 2015.


Der Schweizer Armin Senser ist 1964 geboren und lebt in Berlin. Das ist schon fast alles, was man über seine Person sagen kann. Umso mehr sagen seine Gedichte. Bereits sein Debüt Großes Erwachen (1999) beschwor große Poesie. Sein viertes Buch riskierte einen Roman in Versen (gab es bei uns zuletzt vor 100 Jahren!) und das denkbar ambitionierteste Sujet: Shakespeare. Und wenn Senser jetzt seine neuesten Gedichte unter dem Titel Liebesleben herausbringt, dann wissen wir, dass uns keine Herz-Schmerz-Poesie erwartet – wohl aber Liebe und Leben. Einmal heißt es schnoddrig »Was soll’s. Liebe, eine Abhängigkeit wie andere auch«. Dann aber, im selben Gedicht: »Liebe heißt / tatsächlich wahrgenommen werden.« Senser ist ein Analytiker der Emotionen, sein Leser fühlt sein Hirn angerührt, aber nicht bloß dies allein. (Harald Hartung)

Volker-Sielaff_Glossar-des-Prinzen

Volker Sielaff:
Glossar des Prinzen. luxbooks 2015.


Dieser Band ist ein Wunder an poetischer Verwandlungskunst. Auf Prinzenlieder in Volksliedstrophen folgen Gemäldegedichte in funkelndem Surrealismus und schließlich ironische Demontagen der großen Genies (»Metaphysik auf Eis«). Volker Sielaff balanciert zwischen Verzauberung und Ernüchterung. Seine »Prinzen-Lieder« voll Übermut und Ironie nutzen den Reim als Kunstmittel und rütteln zugleich an den festen Versfüßen der Tradition. Es sind Strophen von einer eminenten Musikalität, die nicht nur an Nietzsches metaphysische Heiterkeit anknüpfen, sondern auch an die Liebesdichtung des persischen Mystikers Hafis, an den erotischen Realisten Brecht und an Goethes Diwan-Verse. In seinen Gemäldegedichten vereinigt Sielaff alle Tugenden eines formbewussten Dichtens: sinnliche Anschaulichkeit und metaphysisches Geheimnis. Eine Zeichnung von Paul Klee wird zum Bild einer unerfüllten Liebe: »Man sieht sie noch in der Ferne, / im rauen Wechsel der Gezeiten: / einer auf des anderen Scheitel / ihre kleine Seenot – reiten.« (Michael Braun)

Julia-Trompeter_Zum-Begreifen-nah

Julia Trompeter:
Zum Begreifen nah. Schöffling & Co. 2015.


Ein unglaublich freies Buch – voll von einer sehr speziellen Art von Freiheit, die dem Kritiker, der wie die Dichterin Julia Trompeter Anfang der 80er Jahre in Westdeutschland geboren ist, »bundesrepublikanisch« vorkommt. Wie im – nur ganz selten als nervig stickig wahrgenommenen – Windschatten der Geschichte und aller klirrend forcierten Avantgarden nämlich befindet man sich in diesem Band noch einmal in großer Wärme und Sicherheit und kann so, in weichen, kleinen, im Wortsinn komischen Gedichtnotizen ganz gelöst, allen nur möglichen Ideen und Stimmungen nachtasten. »Ja wie soll ich das alles / nur schaffen, schaffen, / immer nur Schaffen, Schaffen, / auf Schaf fellen schlafen: / Das wäre was, wäre doch etwas, / das taugt.« – Diese so selbstsicher übersprudelnden, unverkrampft sprachverspielten, jauchzend gefühligen Gesänge machen ihrem Titel alle Ehre. »völlixt entspannt« rücken sie einem wirklich »zum Begreifen nah«. (Florian Keller)

Christoph-Wenzel_lidschluss

Christoph Wenzel:
lidschluss. Edition Korrespondenzen 2015.


»WIR SIND EIN FUNDBÜRO ..., wir sind chroniker, chronisten«. Der so spricht, scannt, was ihm vor das Auge, innen wie außen, oder ins Herz gerät, auch wenn man hier »ohnehin sein herz unter der zunge / trägt«. Das Rheinische Braunkohlerevier und Westfalen sind Christoph Wenzels Heimat. Und wie ein »Lidschluss« Erinnerungen auf die Linse des Auges projiziert, fängt er mit Sprachfindungen ein, was dem bloßen Betrachter öde und fad erscheinen mag: »die felder / dazwischen, raps, raps, raps und mais«. Sezierend klar sind seine Sprachbilder: »WESTFALEN WIEGT SCHWER, hier, / heißt es, lagert das lachen / bei den kartoffeln: kühltrocken im keller.« Die Droste steht im Raum mit unterkühlter Emphase oder Willy Brandts Umweltrede von 1961. Wenzel erschreibt der geschundenen Landschaft ohne Dorf leben ihre Würde. Landschaft und die Menschen, die in ihr leben, spiegeln einander: »hier kennt noch jeder jede linde / jeden stammhalter persönlich«, »ungelenkig lehnt ein besen / an der wand, erbschaften im hauseingang, scherben zu haufen / wie braunes, trockenes laub«. Selten sind mir unaufgeregte Landschaften und ihre Menschen so aufregend erschienen. (Thomas Wohlfahrt)

Ror-Wolf_Die-ploetzlich-hereinkriechende-Kaelte-im-Dezember

Ror Wolf:
Die plötzlich hereinkriechende Kälte im Dezember. Schöffling & Co. 2015.


Für Ror Wolfs Gedichte ist Hans Waldmann ungefähr das, was Donald Duck für die Comics von Walt Disney ist. Hans Waldmann ist der Weltmeister des Verschwindens, der Unfälle und Kalamitäten. Unablässig stürzt er ab und geht zugrunde, stoischen Gesichts wie Buster Keaton, und unaufhaltsam ist er wieder da, weil jedes Ende nur vorläufig war. Das fortwährende Ende und sein fortwährender Aufschub – es ist diese Grundfigur von Samuel Becketts Schreiben, die auch die wundersam komischen, makaber traurigen Verse Ror Wolfs bestimmt. Straff und genau gereimt wie bei Wilhelm Busch, bewegen sie sich durch eine traumhaft entstellte Welt voller Schrecken und Wunder, in der noch das Banale und Bekannte erscheint wie nie gesehen – auch in den surrealen Collagen, die sie wie immer zauberisch begleiten. Da der Band »Gelegenheitsgedichte« einschließt, diezwischen 1959 und 2013 entstanden sind, gibt er nebenbei auch eine Einführung in Ror Wolfs poetische Welt. Und die endet auch diesmal nicht, trotz allen Zerfalls: »Wenn es so weitergeht, dann geht es weiter.« (Heinrich Detering)

Henry-Beissel_Fugitive-Horizons

Henry Beissel:
Fugitive Horizons / Flüchtige Horizonte. Englisch / deutsch. Aus dem Englischen von Heide Fruth-Sachs. LiteraturWissenschaft.de (TRANSMIT) 2016.


Henry Beissel, 1929 in Köln geboren, wandte sich Ende der 40er Jahre von Deutschland ab und wurde in Kanada Professor für englische Literatur. Darüber hinaus ist er Dichter, Dramatiker, Essayist, Übersetzer und Herausgeber. Er schreibt in englischer Sprache. Auf Deutsch erschien 2015 Ein Kind kommt zur Sprache, von ihm selbst übertragen, in dem sich Beissel mit seiner Jugend in ns-Deutschland auseinandersetzt. Ende 2015 erschien Fugitive Horizons, übersetzt von Heide Fruth-Sachs. Darin setzt Beissel sich mit Mikround Makrokosmos auseinander, setzt die Erkenntnisse der Wissenschaft mit unserer Wahrnehmung der Welt, unseren Vorstellungen, in Beziehung und zeigt den ungeheuren Unterschied zwischen beiden. Das ist aufregend, wenn man es ernst nimmt, auch aufwühlend. Oder herausfordernd. »Fragen und Antworten stehen nicht in Bezug zueinander / wie Schlüssel und Schloß. Sie bilden viel eher Scharniere, / an denen eine Tür zwischen heute und morgen schwingt.« Die Erkenntnisse der modernen Naturwissenschaften werden neu bewertet und zwingen uns, unsere Sinneseindrücke in Frage zu stellen. Eine überzeugende Auf forderung an den Leser, sich der menschlichen Welt angesichts des Unbegreiflichen erneut zu versichern. (Ursula Haeusgen)

Anna_Maria-Carpi_Entweder-bin-ich-unsterblich

Anna Maria Carpi:
Entweder bin ich unsterblich. Italienisch / deutsch. Aus dem Italienischen von Piero Salabè. Mit einem Nachwort von Durs Grünbein. Edition Lyrik Kabinett 2015.


Die Mailänderin Anna Maria Carpi ist bei uns durch ihre schöne Kleistbiographie (2011) bekannt geworden – in Italien hat sie auch einen Ruf als bedeutende Erzählerin und Übersetzerin (etwa von Nietzsche, Benn und Enzensberger). Der Kern ihres Werkes aber ist ihre Lyrik. Unter dem Titel Entweder bin ich unsterblich hat Piero Salabè eine Auswahl aus vier Gedichtbänden kongenial übersetzt; er trifft die feinen Nuancen von Sachlichkeit und Ironie. Die Titelzeile des Bandes findet sich in einem Gedicht, das vom Liebesdiskurshandelt und lautet vollständig »Entweder bin ich unsterblich oder nichts«. Diese Entschiedenheit von Gefühl und Denken findet sich in allen Gedichten von Anna Maria Carpi, ganz gleich, ob sie vom Mailänder Alltag reden, wo die Espressomaschinen dampfen, oder von einer Bar am Meer oder von einer Episode aus der Schlacht von Stalingrad. Durs Grünbein bringt in seinem informativen und sympathetischen Nachwort ein Selbstzitat der Dichterin, das das Wesen ihrer Poesie auf den Punkt bringt: »Prosa zu schreiben – das ist, wie in einer regulären Armee zu kämpfen. Zu dichten heißt dagegen, ein einsamer Franctireur, ein Freischärler zu sein.« (Harald Hartung)

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Jon Fosse:
Denne uforklarlege stille / Diese unerklärliche Stille. Norwegisch / deutsch. Aus dem Norwegischen von Hinrich
Schmidt-Henkel. Mit Radierungen von Olav Christopher Jenssen. Kleinheinrich 2015.

Mit seinem ›postdramatischen Theater‹ und mit Romanen wie Morgen und Abend ist der Norweger Jon Fosse zu einem Klassiker der zeitgenössischen Weltliteratur geworden. Dass er auch ein bedeutender Lyriker ist, hat sich hierzulande noch nicht herumgesprochen. Dabei liegen auf Norwegisch bis jetzt bereits neun Bände vor, dazu nicht weniger als drei Auswahlsammlungen. Fosses lyrische Diktion ist von derselben sensiblen Musikalität, die auch sein Theater und seine Prosa bestimmt. Ganz leise vollziehen sich die Übergänge aus alltäglichen Szenen in metaphysische Dimensionen; immer scheinen die Wörter sich zurückzuziehen vor der Stille, um die sie sich bewegen. Fosse schreibt Lieder und Psalmen, Naturgedichte und Meditationen, Texte von einer in der Tat unerklärlichen Stille. Der jetzt im Verlag Kleinheinrich erschienene Band versammelt wunderbare Gedichte, in Fosses klangvollem Nynorsk und in der kongenialen Übersetzung von Hinrich Schmidt-Henkel. Und er ist dank der Radierungen von Olav Christopher Jenssen auch ein Buchkunstwerk geworden. (Heinrich Detering)

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Federico García Lorca:
Liebesgedichte. Spanisch / deutsch. Aus dem Spanischen übersetzt und erläutert von Ulrich Daum. Rimbaud 2016.


Lorca muss man nicht wiederentdecken, er ist immer schon da. Aber als Einstiegsbuch für Neugierige empfiehlt sich dieser tatsächlich taschengerechte Band: eine Auswahl der erotischen Gedichte in einer unprätentiösen Übersetzung von Ulrich Daum. – »Nur dein heißes Herz / und sonst nichts. // Mein Paradies, ein Feld ohne Nachtigall und Leiern, / mit einem stillen Fluss und einer kleinen Quelle.« Das Spektrum reicht von traumhaft eigenwilligen Stimmungsbildern (die frühen Verse sind noch an Frauen adressiert) bis zu den wuchtigen Sonetten von der dunklen Liebe (1936). Lorcas Bemühen, die verbotene Männerliebe in diskreten Symbolen zu verstecken, verleiht den Gedichten eine unheilvoll schwebende Sinnlichkeit. Das Ich spricht als ein Gezeichneter, der Tod ist allgegenwärtig: »Durch den Bogen, an dem wir uns treffen, / wächst langsam der Schierling.« (Daniela Strigl)

Bengt-Emil-Johnson_Das_Fest-der-Woerter-Aus-dem-Sumpf

Bengt Emil Johnson:
Das Fest der Wörter. Aus dem Sumpf. Aus dem Schwedischen von Lukas Dettwiler. Mit einer Nachschrift von Staffan Söderblom. edition offenes feld 2015.


Eine Wanderung durch den Sumpf. Vogelschau. Wissenschaftlich präzise Naturbeschreibung. Emphatische Evokation von Nachtigallengesang. Sprachkritik und Wahrheitssuche. Misstrauisch bohrende Meditationen über den Tod. Selbstironie und lakonischer schwarzer Humor. Wiepasst das alles zusammen? Bengt Emil Johnson begannseine Lauf bahn mit Lautpoesie. In seinen grandiosen späterenGedichten, die sich konventionellerer Sprechweisenbedienen, aber dafür ein experimentelleres Denken pflegen,strebt das lyrische Subjekt nach nichts Geringerem als nachder Selbstauf lösung als Erkenntnisform. Natürlich scheitertes meist tragikomisch an der Trägheit der Materie undder Widerstandskraft des Ichs, aber dennoch erzeugt dieBrillanz der Sprache immer wieder berückende Momentedes Gelingens. Bengt Emil Johnson, einen der bedeutendstenschwedischen Dichter, gilt es hierzulande erst noch zuentdecken - ebenso wie den neugegründeten Verlag editionoffenes feld, der sein erstes Programm der Lyrik widmet. (Marion Poschmann)

Istvan-Kemeny_Ein-guter-Traum-mit-Tieren

István Kemény:
Ein guter Traum mit Tieren. Ungarisch / deutsch. Aus dem Ungarischen von Orsolya Kalász und Monika Rinck. Matthes & Seitz 2015.


»Ich wasche meine Hände, aber in Dreck, in Blut – / wir werden nie mehr unschuldig sein, weder du – nochich.« Aus Ungarn hört man im Moment wenig Gutes. Die Gesellschaft, die sich 1989 die Demokratie erkämpft hat, ist entweder dabei, sie abzuschaffen, oder muss zusehen, wie sie abgeschafft wird: »Die Welt ist nicht zugrunde gegangen. / Das ist keine Welt mehr, / die zugrunde geht« – heißt es in einem der Gedichte dieses großartigen Dichters, der mit unfassbarer Leichtigkeit schweres Gerät stemmt. Mit schöner Bravour und nicht nachlassender Melancholie geht er auf der schmalen Grenze zwischen Gut und Böse seinen Weg, spricht mit Gespenstern und mit Königen, schreibt Nachrufe auf die große Liebe und Elogen auf den Kleinmut, ihm ist der ferne Olymp mit seinen Göttern ebenso vertraut wie das geheime Leben der Dinge – mit einem Wort: Er ordnet als Dichter die Welt neu, ohne sich Illusionen hinzugeben. »Mein Leben kann auch ohne ein großes Finale / zu Ende gehen, still wie die Zeile eines Gedichts.« Nach den vielen wunderbaren Prosa-Schreibern endlich mal wieder ein großer Dichter aus Ungarn! Für mich nach György Petri der interessanteste, beste, lesenswerteste! (Michael Krüger)

Itzik-Manger_Dunkelgold

Itzik Manger:
Dunkelgold. 
Jiddisch / deutsch. Herausgegeben, aus dem Jiddischen übersetzt und mit einem Nachwort versehen von Efrat Gal-Ed. Jüdischer Verlag / Suhrkamp 2016.

»Laßt uns singen einfach und klar / von allem, was heimisch, lieb und teuer: / von alten Bettlern, die fluchen dem Frost, / und von Müttern, die segnen das Feuer.« Itzik Manger (1901–1969) stammte aus Czernowitz und war Zeitgenosse von Paul Celan, Rose Ausländer. Er gilt als einer der wichtigsten jiddischen Dichter des 20. Jahrhunderts. Jiddisch galt ihm dabei immer als »hef ker«, vogelfrei, eine Sprache, die niemandem gehört und worüber niemand verfügen kann. Der zweisprachige Band versammelt das über Kontinente verteilt erschienene poetische Werk Mangers und Gedichte aus dem Nachlass. Eine gefährdete wie Lebenslust betonende Landschaft taucht in ihnen auf, die den Stampfschritt des Volkstanzes genauso kennt wie tief empfundene Religiosität und die Einsamkeit des ewig Flüchtenden. Zusammen mit dem Dokumentenband Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter konnte eine große Lücke der jiddischen Kultur und Dichtung geschlossen werden. Der Herausgeberin beider Bände, Efrat Gal-Ed, gelang es, Lebensgeschichte und Werk Itzik Mangers in der Gesellschaftsgeschichte der Juden Europas zu orten und mit ihr zu verflechten. »Ich komme aus den Öfen von Auschwitz / ich bin jung und auch alt / ich war Millionen gewesen / jetzt bin ich Ein-Gestalt«. (Thomas Wolfahrt)

Kate-Tempest_Hold-Your-Own

Kate Tempest:
Hold Your Own. Englisch / deutsch. Aus dem Englischen von Johanna Wange. Suhrkamp 2016.


Hold Your Own ist eine körperliche, gegen die Festschreibungen des eigenes Körpers revoltierende Geschichte des Sehers Teiresias: Von den Göttern dazu verurteilt, sieben Jahre als Frau zu leben, später vor ein Göttergericht gezerrt,um darüber zu entscheiden, ob Männer oder Frauen die größere geschlechtliche Lust empfinden, für seine Entscheidung ein weiteres Mal gestraft und mit Blindheit geschlagen. Hold Your Own, das sind Gedichte der 1985 geborenen Britin Kate Tempest, deren große Musik-Alben und Spoken-Word-Auftritte in den letzten Jahren Dichtung immer wieder hautnah und körperlich erfahrbar machten. Hold Your Own, das heißt in Johanna Wanges sehr angemessen geradliniger Übersetzung einmal schlicht: "Sich zu behaupten". Behauptet werden in diesem Band in immer neuen Bildern und Verwandlungen im Wortsinn diverse Entwürfe von Körperlichkeit und selbstbestimmtem Leben.Die Bilder strömen von einem blinden Seher aus, sie zeigen lauter Unmöglichkeiten, die man früher Utopien genannt hätte. Die deutsche Übersetzung entrückt und entkörperlicht die Verse stärker als Tempests raues Englisch, sie ringt aber ebenso heftig und wahrhaft politisch um nicht weniger als das gute Leben. (Florian Kessler)

Eugeniusz-Tkaczyszyn-Dycki_Tumor-linguae

Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki:
Tumor linguae. Aus dem Polnischen von Michael Zgodzay und Uljana Wolf. Edition Korrespondenzen 2015.


»Ich habe mit dem Tod geredet, und er hat mir versichert, es gebe weiter nichts als ihn.« Dieser Satz Jean Pauls kommt einem in den Sinn, wenn man sich den düsteren, die Schmerzzonen des Lebens ausleuchtenden Gedichten des polnischen Lyrikers Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki widmet. »Tumor linguae«, die Wucherung der Sprache, sie führt ins Elementare, zum Kern unserer Existenz, wo alle Illusionen zerfallen sind und wir in das Kraftfeld des Todes geraten. Diese Gedichte sprechen von den Versehrungen des Körpers und der Seele – und verbinden sich dennoch zu einem ergreifenden Gesang des Lebens: »schizophrenie ist ein haus / gottes seit ich erkrankte / vielfach und erwachte / im fieber der liebe«. Die »Lieder aus Notwehr« beschwören in der Art einer Litanei die Krankheit der Mutter, den Krebstod des Lebensgefährten, sie locken uns an Orte, wo der Schrecken wohnt. Für die Liedhaftigkeit dieser todessüchtigen Verse haben Michael Zgodzay und Uljana Wolf in ihrer Übersetzung überzeugende Lösungen gefunden. (Michael Braun)

Rosmarie-Waldrop_Ins-Abstrakte-treiben

Rosmarie Waldrop:
Ins Abstrakte treiben. Amerikanisch / deutsch. Aus dem Amerikanischen von Elfriede Czurda und Geoff Howes. Edition Korrespondenzen 2015.


Brauche ich Beine, um Emily Dickinson zu schätzen? Die Antwort, die Rosmarie Waldrop in ihrem essayistischen Langedicht mit dem Titel Ins Abstrakte treiben gibt, ist: ja. Denn um etwas zu wissen, muss der Körper einen Pakt geschlossen haben mit der physischen Welt. »Geistkörperlich intakt«. Da sind die Beine Stellvertreter in Bewegung. In einer so lockeren wie folgerichtigen Weise angeordnet, zeichnet Waldrop die Kontur des Gedankens, der in diesem Moment erst entsteht – klar, diskret, erstaunlich. Als würde sie alle Register der Abstraktion körperlich durchqueren und gedanklich zusammenheften. Was immer sie vorfindet und anspielt, ist aus Höflichkeit gegenüber den Leserinnen und Lesern auf den Gedanken reduziert, auf das Schönste und Klügste, und dennoch semantisch, aber auch in der Textbewegung, der Rhythmik und Komposition verkörpert. Und die Übersetzung macht das mit! Das muss einem erstmal gelingen. »Und glänzt blau wie ein Demonstrativpronomen.« (Monika Rinck)

William-Wordsworth_Gedicht-noch-ohne-Titel

William Wordsworth:
Gedicht, noch ohne Titel, für S. T. Coleridge (The 1805 Prelude). Herausgegeben, aus dem Englischen übersetzt
und mit einem Nachwort versehen von Wolfgang Schlüter. Matthes & Seitz 2015.

Einer der zentralen Texte der englischen Romantik hat 165 Jahre nach der Erstveröffentlichung den Weg zu uns gefunden:William Wordsworths autobiografisches Langpoem The 1805 Prelude, das der Dichter seinem Freund und Reisegefährten Samuel Taylor Coleridge widmete und das nach seinem Tod im Jahr 1850 in einer stark überarbeiteten Version erschien. Die erst 1926 publizierte, widerständigere Urfassung hat Wolfgang Schlüter, für seine eigenwilligen Übersetzungsstrategien bekannt, nun dem deutschen Publikum zugänglich gemacht - in einer literarischen 'Übertragung',deren Prinzipien er im Nachwort offenlegt und damit zur Diskussion stellt. Stilistisch zwischen genuin romantischem Ton, verspielter Patina und unbekümmerten Modernismen changierend, hat Schlüter das bildreiche, stimmungsvolle und gelehrsame Werk in die Gegenwart gerettet und dabei dem ehrwürdigen Blankvers zu neuer,ungeahnter Lebendigkeit verholfen. (Kristina Maidt-Zinke)

Jeffrey-Yang_Yennecott

Jeffrey Yang:
Yennecott. Englisch / deutsch. Aus dem Amerikanischen von Beatrice Faßbender. Berenberg 2015.


»Yennecott / nannten die Corchaug / diesen Ort«. Jeffrey Yang ergründet in der amerikanischen Tradition des Langgedichts die Geschichte eines Gebietes auf Long Island, das zunächst nur als Name existiert: Yennecott, Bezeichnung der indianischen Bewohner, mit ihnen ausgerottet. Hier kommt der Sprechende mit den wohlhabenden Erholungssuchenden an: Ferien, freie Zeit, Lockerung, Öffnung der Wahrnehmung; verschlungene Pfade durch dickes Grün locken jenseits des akkurat gemähten Rasens hinter der Blockhütte. Und das Meer: »Eben noch im Binnenland / mit einem Mal von Meer / umgeben / Licht // lockt /Vergangenes hervor am / Vergessen vorbei«. Plötzlich beginnt der Ort vor Geschichte zu vibrieren: Ein Strom von Informationen ergießt sich über den Suchenden. Yang montiert historische Zeugnisse, Impressionen, Erinnerungen, Dichterworte zu einer suggestiven, episch schweifenden, alternativen Geschichtsschreibung. Alternativ durch die poetische Kraft der Vergegenwärtigung des Ungleichzeitigen, eine Gegenerzählung vom amerikanischen Traum und Trauma. Er reiht, bricht, rhythmisiert, überblendet, schneidet seine Quellen gegeneinander, bringt sie gemeinsam zum Klingen. Ein radikales, eigenwilliges poetisches Verfahren zum Staunen – in der schönen zweisprachigen, von Beatrice Faßbender besorgten Ausgabe. (Holger Pils)