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für die Tapferkeit vor dem Freund, /
für den Verrat unwürdiger Geheimnisse /
und die Nichtachtung /
jeglichen Befehls.

(Ingeborg Bachmann)

Das Lyrische Quartett am 11.12.2019

Mit Christian Metz

Holger Pils und Kristina Maidt-Zinke begrüßten die Diskutanten der Jahresabschlussveranstaltung des Lyrik Kabinetts und Maidt-Zinke ergänzte weitere biografische Daten zu dem Quartett-Gast Christian Metz, der für sie einer „der besten Kenner und leidenschaftlichsten Liebhaber der deutschen Gegenwartsliteratur“ ist.

Metz selbst besprach den neuen Band luna luna (secession verlag 2019) von Maren Kames als „Hochrisikopoesie“: Texte, die „radikal gegenwärtig“ sind und „etwas wagen“. Bevor die Lektüre überhaupt beginne, seien die Lesenden bereits mit „anderen Stimmen“ konfrontiert: Stücke von Nick Drake, Janelle Monáe u.a. Insgesamt mindestens 20 Songs schaffen – so Metz – in dem Band durch „Überschreibung“ eine „Simultaneität diskrepanter Stimmen“ und erzählen eine „Geschichte dezidiert weiblicher Verlassenheit“, „eine neue Herzens-, Sehnsuchts- und Gefühlssprache“ mit „Stimmenvielfalt“ und „Schmerzdrama“. Geprägt von „unterschiedlichsten Vektoren und Gattungen“ stelle der Band eine neue, „sehr gegenwärtige Form der Rezeption“ dar. Kristina Maidt-Zinke gestand, sie habe zunächst die in dem Band aufgerufene „Musik mehr interessiert als der Text“. Doch Youtubelinks, so Florian Kessler, seien in Bänden ja nichts Neues. Hubert Spiegel erklärte, er habe sich nichts angehört, es müsse auch funktionieren „für Leser, die nicht alles einordnen können“. Angesprochen wurden die weiteren vielen Bezüge der Texte, die Intertextualität: „Wir bewegen uns“, sagte Metz, „die ganze Zeit in fremden Texten.“ Schon bei Cervantes sei gezeigt worden, dass häufig Fiktion nicht mehr von der Realität unterschieden werden kann. „Kames’ Buch arbeitet damit“ (Metz). Auf die Frage, was ein Buch heute „überhaupt noch sein kann“, gab Metz zur Antwort: „Weil wir genau in diesen Debatten stecken, was das Buch als einzelnes Kunstwerk heute tatsächlich noch zu bieten hat und welche Funktion es in dieser Multimedialität tatsächlich einnimmt“. „Das so schön gestaltete Buch sei hier „der Modus der Refokussierung“. Kessler charakterisierte den Band als „unglaublich lässig und gegenwärtig“, und fragte, ob er „gut altern“ werde. Metz darauf: Er traue diesem Buch viel zu und halte es „für einen wichtigen Diskursknoten“. Maidt-Zinke setzte als ihr Schlusswort: Es sei „ein ganz tolles Buch für die junge Generation“.

Florian Kessler präsentierte dann den posthum erschienenen Band Gedichte (Elif Verlag 2019) des deutsch-vietnamesischen Autors Thien Tran (†2010), herausgegeben von Ron Winkler, „ein etwas älterer Freund [Trans] und vielleicht Mentor“. In Winklers Vorwort gebe es die Formel der „Beteiligtheit durch Unbeteiligtheit“. Kessler beschrieb sein Erlebnis beim Open Mike 2008, bei dem Tran gelesen hatte. Alle im Saal hätten damals gespürt: „Da probiert gerade jemand etwas, das genau jetzt gegenwärtig ist.“ „Viele Gedichte haben nicht den Anspruch von Klassizität“, „Wissenschaftsjargon“ werde eingesetzt, und die Anlage sei „sehr szenisch“. Anhand des Gedichts „Die Präsidentensuite“ analysierte Kessler die Poetik des jungen Dichters als „Versuchsanordnung“ mit „Traumlogik“. „Jemand ist auf der Suche nach etwas, stößt auf Regeln, auf Ansätze“, „die Grundfragen der Philosophie“. „Das Delirium, der Exzess“ wird „auf sehr kühle Art angerufen“, „es kann gar nicht zum Delirium kommen“ und dabei werde Scheitern „auf sehr gute, gelungene Art“ vorgeführt. Maidt-Zinke dagegen kritisierte die „spröde“ Sprache des Vorworts, Hubert Spiegel konterte, das Vorwort habe „etwas Unangestrengtes: Es will […] aus den Gedichten nicht mehr machen, als sie sind“. „Mit dem Philologenbesteck“ heranzugehen führe bei dem Buch „zu keinem glücklichen Ende“. Zu bedenken sei: „Das ist keine Ausgabe letzter Hand“, es habe mehrere Fassungen gegeben, „welche die letztlich ‚gültige‘ ist, weiß der Herausgeber nicht.“ Weiter gab Spiegel zu: Das Buch wirke auf ihn streckenweise „schon etwas verstaubt“, dennoch herrsche in den Gedichten ein „sehr schöner lakonischer Ton: „Die Texte werden […] mit einer gewissen Verzweiflung überzogen, die sehr dosiert vorkommt“. Christian Metz sprach von einem „Möglichkeitenband“, der viele „Entknospungsfantasien“ anbiete, mit höchst unterschiedlicher Qualität. Für Kristina Maidt- Zinke wird darin „ein sehr trauriges Lebensgefühl vermittelt“, „eine sehr große Melancholie“: „Das teilt sich […] unmittelbar mit“.

Maidt-Zinke selbst präsentierte im Anschluss Uwe Kolbe, der „ein äußerst umfangreiches Werk“ vorgelegt hat. Der aktuelle Gedichtband Die sichtbaren Dinge (Poetenladen 2019) sei „schon von der äußeren Anmutung her ein Symptom dafür“, dass jemand „nach Beschränkung sich sehnt […] nach Zur-Ruhe-Kommen, nach einem Fußfassen im Sichtbaren“. Die 48 Gedichte zu je 8 Zeilen „sind sehr lapidar, ganz unterschiedlich geartet“. Es sei eine „Wohltat, [...] so etwas auch mal wieder zu lesen, […] gerade weil es vom Allereinfachsten ausgeht“. Zum vorgetragenen Text Der Zwischenraum sagte sie: „Ein schönes kleines Gedicht, und es will nicht zu viel. Es kommt das Wort ‚still‘ dreimal darin vor, das sagt auch schon etwas über die Atmosphäre aus. Da hat jemand wirklich das Bedürfnis nach Stille und versucht, sehr genügsam Worte zu finden“, ein Band „voller Überraschungen, voller kleiner Drehungen und Wendungen und Öffnungen“. Hubert Spiegel befand, auch er sehe „die Sehnsucht nach Ruhe, den Willen zur Reduktion, das Formprinzip“, im Nachwort gebrauche Jan Kuhlbrodt das „Nietzschewort vom Tanzen in Ketten“ (in Bezug auf die Strenge der selbstauferlegten Form): „Das hat was von einer Selbstbeschränkung […], ein bisschen in sich gekehrt, ein bisschen […] kraftlos“. Mit Blick auf Maren Kames und ihre „enorme Energie“, ihr „enormes Selbstvertrauen“ fügte er an . „Ein bisschen von dieser Kraft, von diesem Selbstvertrauen, von dieser Freiheit wäre auch diesem Band zu wünschen trotz aller Zurückhaltung“. Christian Metz sagte, er könne „die Bewegung und die Stille“ nachvollziehen, war aber in einigen Fällen nicht glücklich mit dem Vokabular der Gedichte. Kessler sprach von „etwas unkonzentrierter Achtsamkeit“, und vermutete, der Band wolle „bei sich bleiben“. Als Abschluss dieses Diskussionsteils wies Hubert Spiegel beeindruckt auf den Text „Die Nordsee“ hin.

Am Ende des Abends sollte sich das Quartett „einer Ikone zuwenden“ (Maidt-Zinke). Hubert Spiegel rekapitulierte dafür die Entstehung von Paul Celans „Mohn und Gedächtnis“ (1952) entlang von Celans Biographie und verwies auf die für Celan ausschlaggebende Tagung der Gruppe 47: Dort habe Celan Gedichte „vorgetragen in einem Tonfall, der sehr feierlich war, der auch etwas Singendes hatte, von einem Singsang ist gesprochen worden, er hat sie sehr, sehr langsam vorgetragen“. Auch der Antisemitismus der Gruppe 47 habe „keine ganz kleine Rolle gespielt“ bei der Traumatisierung, die Celan von dieser Lesung davontrug. Der Band „Mohn und Gedächtnis“ dagegen – so Spiegel – „wurde erstaunlicherweise sofort als etwas [...] sehr Besonderes wahrgenommen und sein Autor war [...] im Handumdrehen [...] bekannt“. Spiegel zitierte eine Besprechung (1953) von Paul Schallück aus dem FAZ-Archiv. Sie endete: „Wir aber werden uns […] daran erinnern, dass wir nie zuvor solche Verse gelesen haben“. Spiegel weiter: Die Veröffentlichung war „unerhört“ und „sieben Jahre nach dem Krieg [...] ein ungeheures Ereignis“. Er las den Text Corona vor und kommentierte: „Ein Liebesgedicht, eindeutig, [...] das Geschlecht der Geliebten ist auch [...] das jüdische Volk“. Christian Metz hierzu: Celan habe ein „Gespür für das Zusammenführen der Bilder“, „für die Stimmungslage“, das Gedicht sei ungeheuer „gut gearbeitet“. Kessler und Spiegel sprachen im Weiteren über die frühe Rezeption und fragten nach Netzwerken oder Autoren, die sich für Celan eingesetzt haben. Maidt-Zinke erinnerte sich, dass man lange versucht habe, in der Rezeption „den politischen und biografischen Hintergrund [...] auszublenden“. Kessler erwähnte, dass in Max Czolleks Streitschrift Desintegriert euch! der Umgang mit Celan(gedichten) beschrieben wird im Sinne eines „Gedächtnistheaters“: d.h. verstanden als „absolute Metaphern“, an denen „man sich berauschen kann“, denen man aber keine Antwort schulde. Metz dagegen wies auf ‚positive‘ Rezensionen hin mit „den klassischen antisemitischen Ausreißern“, und zitierte den negativen „Kurzschluss“, „dass die Vielfalt der Sprache dieser Gedichte entstanden sei aus der Fremdsprachlichkeit und dem jüdischen Hintergrund, und deswegen eine jüdische Vielfalt entstehe bei Celan“. Die anregende und erhellende Diskussion musste nach zwei Stunden aus Zeitgründen beendet werden. Mit dem Dank von Holger Pils klang das Veranstaltungsjahr des Lyrik Kabinetts aus.

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