Der Flügelflagel gaustert /
durchs Wiruwaruwolz, /
die rote Fingur plaustert, /
und grausig gutzt der Golz.
Langsamer träumen! denke ich und sehe /
mich nach Deckung um
Edoardo Sanguineti
Zu diesem Band: Edoardo Sanguinetis Lyrik-Zyklus Postkarten, der 67 Gedichte aus der Zeit von 1972 bis 1977 umfaßt, steht in einer klaren ideellen Linie mit seiner früheren erzählerischen wie lyrischen Produktion: hier wie dort geht es um eine Zersetzung und Auflösung des Ich in diverse - zum Teil äußerst konkret geschilderte, zum Teil von literarischen Vorbildern geprägte oder auch sprachspielerisch-absurde - Einzelsituationen; wie schon in Sanguinetis Roman Capriccio italiano (1963) werden autobiographische Einschläge deutlich (seine Ehefrau Luciana wird als Adressatin der Postkarten genannt, seine Hausgehilfin Anna erwähnt); und wie der frühere Zyklus Reisebilder trägt auch Postkarten bereits im Original einen deutschen Titel und schließt damit an die Heineschen Reisebilder an, faßt aber die Eindrücke in die verknappte Form moderner Urlaubs-und-Kurztrips-Dokumentation‘. Unerschöpfliches Thema ist die Frage, wie sowohl die Welt als auch das Ich sprachlich einholbar werden können.
In Postkarten steht jeder dahingehende Versuch - schon vom Titel wie auch vom Eröffnungs-gedicht her - unter dem Vorzeichen des Fragmentarischen, Vorläufigen und Zufälligen. Eine Postkarte zwingt formal zur Kürze und gibt vor, als flüchtiges Bezugnehmen auf einen gerade erlebten Reisemoment, keinen Anspruch auf weiterreichende Gültigkeit zu erheben. Eine Postkartenserie läßt einen Reiseweg, der auch bei Sanguineti auf die alte Konzeption der Lebensreise anspielt, durch sprachliche Schlaglichter ahnen, anstatt ihn übergreifend zu beschreiben. Beginn und Ende dieses Weges (und damit des Zyklus als poetisches Konstrukt) sind deutlich markiert: von einem "tutto è incominciato", mit dem das Schreiben anhebt, führt er zu einem Punkt, an dem das Ich sich - wie der Sprecher des Sanguinetischen Romans Il Giuoco dell’oca, der von seinem Sarg aus mit seiner Frau durch Klopfzeichen kommuniziert - als ‘nicht mehr lebendig’ bezeichnet. Dieser Todeszustand fällt mit einem ‘Alles-Sagen-Können’ von ingeniöser Zweideutigkeit zusammen: denn damit ist sowohl gemeint, alles von sich aussagen, d. h. sich ganz in Sprache fassen zu können, als auch ein Jedes-Beliebige-Sagen-Können, worin die Tendenz der Postkarten zum objet trouvé ins Extrem getrieben ist. Wenn das Ich entweder sich sprachlich ganz transparent geworden ist oder jedes Nebensächlichste gleichgültiges Thema des Sprechens werden kann, hat der Dichter nichts mehr zu sagen.
So liegt die innere, den ganzen Zyklus durchwirkende Kraft in der Vorläufigkeit des jeweilig Gesprochenen: Doppelpunkte als neutralste Form der Sprech- und Denkpausen-markierung bilden die einzige Gliederung des Textes und sind ein typographisches Indiz, das von dem eben Gesagten immer weiter verweist, auf eine zu erwartende (und meist ausbleibende) Erklärung, auf ein Noch-Nicht-Gesagtes, auf das zufällig gewählte Thema der nächsten Postkarte.
In diesem fortwährenden Verwiesen-Sein läuft das Ich - nachdem es eingangs den Selbstverlust ironisch in die Chiffre eines verwechselten Mantels gefaßt hat - ‘sich selbst schreibend hinterher’, jagt mit Flugzeuggeschwindigkeit von Thema zu Thema, vom (ironisch gebrochenen) Liebesgeständnis zu einem deftig-erotischen Wortspiel, vom literarischen Topos der ‚brennenden Bibliothek‘, der als Kriegsanekdote re-naturalisiert wird, zum intimen Bekenntnis das Vaterstolzes. In Klammern Gesetztes bezeich-net in diesen lyrischen Stenogrammen jenen Raum von Ideenassoziationen, die - als nicht niedergeschriebene zu denken - den Leser in das Geistesleben des Sprechenden hineinsehen lassen.
Dabei sind diese freien Verse punktuell mit höchst virtuosen Reimspielen durchsetzt, nämlich Binnenreimen der kleinen und kleinsten syntaktischen Einheiten. Diesen scheinbar spontanen, mitreißenden Sprachwitz kann natürlich keine deutsche Übersetzung nachbilden. Dafür ist der Blick auf das italienische Original unerläßlich.
Last not least ist die Lyrik der Postkarten zweifach dialogisch: zum einen stilisiert sie sich als Hinwendung zu ‘Empfängern’ (Personen aus Sanguinetis Freundes- und Familienkreis), die den Schreibenden gut kennen und seine kryptisch-anspielungsreichen Aperçus verstehen können. Doch über dieser ersten ‘horizontalen’ Dialogdimension erhebt sich eine zweite, gleichsam vertikale: nämlich die direkte Anrede des Lesers durch den Dichter, und diese bricht die ‘Postkarten‘-Fiktion, indem sie den Kunstcharakter der Texte offenlegt.
So etabliert sich diese Dichtung allenthalben in der Instabilität des Übergangs: von einem Aufenthaltsort zum nächsten, von einer Emotion zur unvorhersehbaren anderen, von einem Ich, das sich sprechend an seine diversen Objekte versprengt, zu einem Leser, den es in diesen Prozeß mit sprachspielerischer Eleganz hineinzieht... Und in diesem Nicht-zur-Ruhe-Kommen, diesem permanenten dynamischen ‘Dazwischen-Sein’ ist Dichtung noch praktizierbar: praktizierbar als unaufhörlicher, reiner Redevollzug, der angeblich bei keinem vorgeprägten Stil ein Obdach formaler Gültigkeit sucht. Daß dies freilich wiederum ein Stil ist, macht diese Texte zum ästhetischen Ereignis.
Dieses Bändchen entstand anläßlich einer Lesungs Sanguinetis am 28. Februar 2000 im Münchener Lyrik Kabinett (im Rahmen der Lesungsreihe Poesia 2000) und präsentiert eine Auswahl von zwölf Gedichten aus dem Zyklus, im Original und deutscher Übersetzung. Den Abschluß des Bandes bildet ein wesentlich späterer Text des Autors: eine Kontrafaktur des "Sonnengesangs" von Franz von Assisi. Darin inszeniert der Dichter eine großangelegte Abrechnung mit dem gegenwärtigen Zustand der Welt und deren Sprachverwendung und antwortet solcherart - am Ende des 20. Jahrhunderts - auf den ältesten überlieferten Text der italienischen Volkssprache vom Beginn des 13. Jahrhunderts. Statt - wie Franziskus - an den Schöpfer wendet sich Sanguineti an die Weltmaschine und feiert sie mit ätzender Ironie.
Edoardo Sanguineti, geboren in Genua 1930, begann nach einem abgeschlossenen Literaturstudium eine akademische Lehrtätigkeit, zunächst in Turin, dann in Salerno und schließlich in Genua, wo er heute lebt. Er verfaßte zahlreiche literaturwissenschaftliche Arbeiten zu Autoren wie Dante, Pascoli und Gozzano und übersetzte Aischylos, Sophocles, Euripides und Seneca. Zusammen mit Luca Ronconi erarbeitete er eine Theaterfassung von Ariosts Orlando furioso und schrieb für Luciano Berio die Libretti seiner Opern Passaggio und Laborintus II. 1979 wurde er als Unabhängiger auf der Liste des PCI ins italienische Parlament gewählt.
Zu seinen Lyrik-Veröffentlichungen zählen: Laborintus (Varese 1956); Opus metricum (Mailand 1960); Triperuno (Mailand 1964, enthält frühere Sammlungen und die neue Sequenz Purgatorio de l’Inferno); T. A. T. (Verona 1968), wieder in Wirrwarr (Mailand 1972);
Catamerone 1951-1971 (Mailand 1974), Postkarten (Mailand 1978); Stracciafoglio (Mailand 1980); Scartabello (Ancona 1980); Segnalibro. Poesie 1951-1981 (Mailand 1982); Novissimum Testamentum (Lecce 1986); Bisbidis (Mailand 1987); Senzatitolo (Mailand 1992).
An Erzählprosa sind zu nennen: Capriccio italiano (Mailand 1963); Il Giuoco dell’oca (Mailand 1967); Il Giuoco del Satyricon (Petron-Imitation) (Turin 1970).
Theater u.a.: Teatro (Mailand 1969); Storie naturali (Mailand 1971); Faust. Un travestimento
(Genua 1985). Seine Werke sind zusammengefaßt in Opere e introduzione critica (Verona 1993).
Pia-Elisabeth Leuschner (Lyrik-Kabinett)
Verschiedenes
Außerhalb der Reihen sind im Lyrik Kabinett verschiedene einzelne Publikationen erschienen. Zu beziehen über das Lyrik Kabinett sind außerdem die „Mitteilungen des Rudolf Borchardt-Archivs“ (Titan, Heft 1-12).