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Brückengang und Zeitfraß

Wulf Kirsten, geb. 1934, wuchs in handwerklich-kleinbäuerlichem Milieu auf: Die Namen in den Titeln einer Gedichtsammlung (Die Erde bei Meißen, 1986) und eines Prosabands (Die Schlacht bei Kesselsdorf, 1984/1990) deuten auf die Region, die ihn und sein Werk nachhaltig prägten. Sehr früh hatte er schon tausend sächsische Mundartbelege, ein sehr konkretes Vokabular, für Wörterbücher gesammelt. Dank der Verflechtung von Sprache und Landschaft, Natur und Geschichte kann man in seinen Gedichten und seiner Prosa eine neue Dimension von Heimat finden. Die Erdlebenbilder (2004) sammeln Gedichte aus den 50 Schaffensjahren und zeugen von einer Poesie, die sich, wie schon die Anmerkungen in diesem Band andeuten, nur bedingt der Naturlyrik zuordnet: Kirsten ist ein zeitkritischer poeta doctus, fern jedes Elfenbeinturms: „Wo aber bleibt die reine Poesie?“ schließt sein Gedicht über den Ettersberg und das Lager Buchenwald.
Früh gefeiert als „größte Hoffnung der DDR-Lyrik“(Reiner Kunze) trat er erst in den 80er Jahren, vor allem nach der Grenzöffnung, ins allgemeine Bewusstsein. Was er der Lyrik an Neuland erschloss, beweist das weite Spektrum seiner Preise vom Johannes-R.-Becher-Preis (1985) bis zu dem der Adenauer-Stiftung (2005) und zuletzt dem Christian-Wagner-Preis (2008).

Ulrich Dittmann, geb. 1937, Dr. phil., Akad. Direktor, studierte deutsche und englische Philologie und lehrte von 1965 bis 2003 an der LMU Germanistik. Er ist Vorsitzender der Oskar Maria Graf-Gesellschaft, Herausgeber des Graf-Jahrbuchs und arbeitet seit fast 30 Jahren an der Historisch-kritischen Stifter-Ausgabe mit, die die Akademie der Wissen-schaften herausgibt.

POESIE

wenn tod, wenn grab,
dann kommt uns nicht,
was ist das: poesie,
die hingabe ans wort,
das feuer, das in den worten brennt,
der stachel, der schmerzhaft einsticht,
wohin er auch blindlings trifft.
die trauer aller dinge, auch
wenn sie gar kein gesicht haben,
aus dem zu lesen wäre, die aber tot
sind und leben und wie verrückt
anfangen zu leben, in jeder zeile
sich forttragen, in jeder faser
vibrieren und wissen, was es heißt,
schweigen in schwermut, schweigen
für immer, wenn tod, wenn grab,
viel zu jung sterben die dichter
in Polen.

Wulf Kirsten, aus: Erdlebenbilder (2004)

Brückengang und Zeitfraß

Wulf Kirsten
liest aus seinen Essays und Gedichten.

Einführung: Ulrich Dittmann

Montag­, den 30.03.2009
20:00 Uhr

Amalienstrasse 83 / Rückgebäude
(U3/U6 Haltestelle Universität)

Eintritt: €7,00 / €5,00
Mitglieder Lyrik Kabinett: frei