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Die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung, die Literaturwerkstatt Berlin und die Stiftung Lyrik Kabinett präsentieren

Die Lyrik-Empfehlungen des Jahres 2015

Marcel-Beyer_Graphit

Marcel Beyer:
Graphit. Suhrkamp Verlag 2014.


Graphit, das heißt: Schreiben. Zwölf Jahre hat sich Marcel Beyer Zeit gelassen, um die schönsten Variationen,deren seine Sprache fähig ist, in Rhythmus zu verwandeln. Die Wortverbindungen und Worterfindungen, das musikalische Verfahren und der Ton des Ganzen machen aus diesem Lyrikband eine beglückende Begegnung mit der Poesie. Graphit ist sie, wie die bleiglänzende Farbe, wie ein schlichter Bleistift, wie leichtes und flüchtiges Graphitpulver. Abstrakte Ästhetik? Nein. Denn in jedem Vers steckt auch die Erinnerung einer unausweichlich konkreten Existenz-und Alltagserfahrung. Dieser Band erzählt mit Herzklopfen,traurig und sinnlich, aus den Tagen und Jahren einer Lebenszeit. (Maria Gazzetti)

Paulus-Boehmer_Zum-Wasser-will-alles-Wasser-will-weg

Paulus Böhmer:
Zum Wasser will alles Wasser will weg. Verlag Peter Engstler 2014.


Seit Jahren schreibt Paulus Böhmer epische, um eine Mittelachse mäandernde Gedichte, die alles umfassen wollen, weil ja auch um uns alles gleichzeitig ist, Schmutz und Schönheit, die Scheußlichkeiten der Geschichte und das Leuchten der kleinen Dinge – Gedichte, die so, Unmöglichem trotzend, Größe gewinnen. So steht auch hier Bombastisches neben Banalem, gehen bizarre Bilder in Anmutiges über, apokalyptische Szenen in Alltagsskizzen. Zentrales Motiv ist das Wasser, und die Ohm aus Böhmers Kindheit windet sich durch alle Teile des Poems, das selbst Strom ist mit zahlreichen Seitenarmen, mal zornig brausend, mal verblüffend zärtlich, hier mit erzählerischer Breite, dort mit lyrisch glitzernden Pools. All das entwickelt einen unwiderstehlichen Sog. Wer an Whitman als Ahnherrn dieser Dichtung denkt, die Aufzählungen sowie kunstvolle Wiederholungen als Stilmittel nutzt und die von der kosmischen Rundumschau aufs Detail zu zoomen versteht, liegt sicher nicht falsch – und wird auch in Böhmers Langgedicht einen »Song of Myself« erkennen. (Jan Wagner)

Sonja-vom-Brocke_Venice-singt

Sonja vom Brocke:
Venice singt. kookbooks 2015.

Ein »Jungfernheim«, ein »Kunstalmsee«, ein »Milchglas mit Gift«. »Schwanensee«, die »Akropolis«, »Snow White aus Amerika«. Es geht wild zu in Sonja vom Brockes erstem Gedichtband, der in diesem Frühjahr bei kookbooks erscheint – oder nein, falsch, genau anders herum: Wildheit wird hier äußerst kunstvoll inszeniert. Voll hehrer abendländischer Referenzfallen ist das ständig überraschende Vokabular dieser Verse und voll ekstatischem Spott über allen hehren Glauben an die reine Tradition. Als würde höchstes Bildungsgut lustvoll mit Autotune-Stimmverzerrer vorgetragen, ergibt sich immer wieder die Frage nach der synthetischen Gemachtheit aller Erfahrungen, die aus dem künstlich spiegelnden Venice-Venedig dieses Bandes heraus auch eine nach der Gemachtheit der Geschlechter ist. Echtes Begehren, gibt es sowas? Nun: »Ich hab Hunger. Mir wurden Bohnen versprochen. Ich setze die 3 D-Brille ab und bemerke, wie flach der Kopf meines Vorsitzers ist.« (Florian Kessler)

Daniela-Danz_V

Daniela Danz:
V. Wallstein Verlag 2014.


Daniela Danz macht sich mit diesem Gedichtband auf, ein begriff liches Phänomen zu erkunden: Das »Vaterland«, für das die Titel-Chiffre V steht. Obwohl der Band mit mehreren Zyklen dicht gefügt ist, wirkt diese Erkundung niemals angestrengt-systematisch, sondern bleibt spielerisch. Eindrückliche Motivspiegelungen verbinden die Gedichte. Wie in ihren früheren Bänden bewegt sich Danz gelassen durch Geschichte und Mythos, ohne kulturgeschichtliches Wissen nur trocken auszustellen. Sie fragt vielmehr sehr zeitbewusst und politisch danach, was das ist oder sein kann: das »Vaterland«. Der zeitliche Bogen ist weit: Er beginnt mit wundersamenProsagedichten, in denen wir Helden der Jungsteinzeit kämpfen sehen, und endet bei NATO-Einsätzen oderFlüchtlingen an der Außengrenze der EU. Der begriffliche Bogen ist ebenso weit: vom »Vaterland«, der Heimat, als des »Vaters Acker«, bis zum angstmachenden Staat in seiner nationalistischen Verkehrung. Trotz aller drängenden Aktualität geht es dabei nie platt-parolemäßig zu. Ganz im Gegenteil: Daniela Danz’ leise Gedichte gehen der selbstgestellten Frage mit einer poetischen Feinfühligkeit nach, die auf jeder Seite zum Staunen anhält. (Holger Pils)

Andrea-Grill_Safari-innere-Wildnis

Andrea Grill:
Safari, innere Wildnis. Otto Müller Verlag 2014.


Andrea Grills Gedichte sind höchst originelle Momentaufnahmen der Existenz, in freie Rhythmen gesetzt,verspielt und dennoch wortkarg, vielseitig sinnlich, polyglott gesprenkelt und von nimmermüdem Staunen über Fauna und Flora und Menschengehabe geprägt. Sie nehmen die Welt auseinander und setzen sie erfrischend neu und anders zusammen, ohne dass die innere und die äußere Wildnis mit Gewalt in Einklang gebracht würden: »pass ich noch in einen Körper? / mich kitzelt mein Herz.« (Daniela Strigl)

Juerg-Halter_Wir-fuerchten-das-Ende-der-Musik

Jürg Halter:
Wir fürchten das Ende der Musik. Wallstein Verlag 2014.


»Frage mich, ob das Leben auch so oft über uns nachdenkt, / wie wir über das Leben? – Geschenkt.« So lautendie letzten zwei Zeilen des Gedichtes »Morgenritual«. Und sie teilen uns gleichsam mit, worum es in diesenGedichten geht. Die meist kurzen Texte sind »kleine, geballte Energiebündel, die sich beim Lesen langsam öffnen wie eine Faust«, so Christine Lötscher im Tages-Anzeiger. Jürg Halter, geb. 1980 in Bern, ist Dichter und Spoken-Word-Poet. Seine Sprache ist rhythmisch und verständlich. Mit seinen Gedichten erkundet er sich und uns und die Welt, bringt Alltägliches zur Sprache und fragt nach dem großen Zusammenhang. »Manchmal schillert alles wie in einem Kaleidoskop; im Gewöhnlichen wird das Ungewöhnliche sichtbar«, wie es im Klappentext treffend heißt. Das Lesen dieser Gedichte ist auf ruhige Weise spannend, regt zum Hinschauen und Weiterdenken an und macht – trotzdem, deshalb – einen melancholischen, wissenden Spaß. (Ursula Haeusgen)

Christine-Lavant_Zu-Lebzeiten-veroeffentlichte-Gedichte

Christine Lavant:
Zu Lebzeiten veröffentlichte Gedichte. Herausgegeben und mit Nachworten von Doris Moser und Fabjan Hafner, unter Mitarbeit von Brigitte Strasser. Wallstein Verlag 2014.


»Trau der Mannschaft deines Seglers zu, / dass sie tüchtig aus der Trunkenheit / aufstehn könnte, jeder einzeln aufstehn, / jeder noch bis übers Kinn besoffen, / aber hingehn und das Seine tun!« Das Editionsprojekt des Wallstein Verlags zeigt, wie eine gute Neu-Edition das Bild, das manvon einer Autorin gewonnen hat, nachhaltig verändern kann. Stellte noch Thomas Bernhard in seiner Zusammenstellung der Gedichte von Lavant für den Suhrkamp Verlag das Leiden ins Zentrum, zeigt sich bei der Lektüre des gesamten poetischen Werks nun: die Freude des Machens, die ungeheure Transformation von Schmerz und Leid in ein großes, kraftvolles und zuweilen immens komisches Werk. So enthalten die Lyrikbände Die Bettlerschale und Spindel im Mond je etwa 150 Gedichte. Wenn es einem auch schwerfällt, Christine Lavant da nicht zu widersprechen, wo sie sagt: »Kunst wie meine ist nur verstümmeltes Leben«, müsste man in diesem Selbstzeugnis doch eigentlich vor allem erkennen, welch ungeheure Wertschätzung dem verstümmelten Leben gebührt. (Monika Rinck)

Christoph-Meckel_Tarnkappe

Christoph Meckel:
Tarnkappe. Herausgegeben von Wolfgang Matz. Carl Hanser Verlag 2015.


Von Christoph Meckel, der Verkörperung des romantischen Dichters, der alles andere als naiv und schwärmerisch ist, gibt es zu seinem 80. Geburtstag eine Gesamtausgabe seiner Gedichte, die auch für Kenner seines Werks Überraschungen bietet, denn viele seiner Gedichtbände waren in kleinen Verlagen erschienen und kaum im Handel erhältlich. Die nun vorliegenden tausend Seiten zeigen einen produktiven, artistischen Dichter, der die Komödie der Welt in immer neuen Versuchen zu preisen und zu demaskieren versteht. Ein Lebensroman in Versen, großartig und auf jeder Seite überraschend. (Michael Krüger)

Dirk-von-Petersdorff_Sirenenpop

Dirk von Petersdorff:
Sirenenpop. C. H. Beck Verlag 2014.


Dirk von Petersdorff nennt seinen neuen Band keck und mutwillig Sirenenpop. Der Titel bündelt seine Intentionen: Sirenenpop als Synthese von Alt und Neu, von Antike und Postmoderne, Verführung und Provokation. Im Titelgedicht tönt das so: »Auch Kirke haben wir gekannt, / von ihrer Ausziehcouch umrandet, / Ägäishitze in Hannover, / an jedem Freitag dort gestrandet.« In der Stimme des Dichters klingt eine generationstypische Stimme mit. Sie erinnert sich an die »WG-Zeit, nachts«, an den »Truppenübungsplatz,jetzt Biotop« oder riecht noch immer »die Suhrkamp-Bücher im Regal.« Diese Vierzigjährigen sind einer verlässlichen Lebenskonzeption kaum näher gekommen. Auch wenn sie sich als »Paare« zusammenfinden. »Er bringt ihr grünen Tee, dann ist der Wille / nur so ein Löffelklappern in der Stille.« Petersdorff bringt seine Befunde auf einen leichten Ton. Er bestätigt die traurige Wissenschaft, wonach es kein richtiges im falschenLeben gibt. Umso entschiedener aber hält er daran fest, dass es mehr geben muss als jene minima moralia, die aus Beziehungskisten abzulesen sind. (Harald Hartung)

Silke-Scheuermann_Skizze-vom-Gras

Silke Scheuermann:
Skizze vom Gras. Schöffling & Co. 2014.


Die einsamste Figur in Silke Scheuermanns Gedichtbuch Skizze vom Gras ist das hochmütige »Mädchen im Spiegel«. Referenzpunkt für dieses Gemäldegedicht ist ein Bild des ukrainischen Malers Wladimir Lukianowitsch von Zabotin aus dem Jahr 1922. Auf einer Frisierkommode sind auf diesem Bild geheimnisvolle Dinge drapiert: ein Handschuh, eine Schmuckfeder, eine Schachtel Zündhölzer. Im Zentrum des Bildes ein an zwei Metallstreben befestigter Spiegel – und darin das Gesicht eines eitlen Mädchens, der Körper wirkt wie abgeschnitten. Ein Mädchen, so scheint es, das für ein Fehlverhalten bestraft wird mit dem Entzug des Körpers. Silke Scheuermann hat daraus die skeptische Metaphysik ihres aufregenden Lyrikbands destilliert: »Als Kind schaute ich / mit der Wachsamkeit eines Geschöpfes in den Spiegel, / das ständig vom Verschwinden bedroht ist.« In Skizze vom Gras finden wir einige der finstersten Gedichte über die Liebe als aussichtsloses Unternehmen, die seit den späten Verzweiflungspoemen Ingeborg Bachmanns geschrieben worden sind. (Michael Braun)

Jan-Wagner_Regentonnenvariationen

Jan Wagner:
Regentonnenvariationen. Hanser Berlin 2014.


Jan Wagners jüngstes Gedichtbuch ist (was einiges heißen will) sein bisher schönstes. Wieder zeigen uns diese Gedichte die Wunder einer Welt, die so nahe ist wie der Giersch im Garten und die Seife im Badezimmer, wie Brunnen oder Regentonne. Wieder präsentieren sie uns Unerhörtes, diesmal etwa den Kentaurenblues, und lassen Ungesehenes sehen, wie die Vögel über der Waratah Street oder das »sanfte knausergesicht« der »zerzausten stoiker« und »verlausten buddhas«, die im Eukalyptusbaum wohnen und Koalas heißen. Unermüdlich wach ist ihre Aufmerksamkeit, unerschöpf lich die Erfindungskraft, mit der verbrauchte Wörter und Reime, ganze Vers-, Strophen- und Gedichtmaße so erfrischt und verjüngt werden, als hörten und sähen wir sie zum ersten Mal. Es sind, mit anderen Worten, abermals Gedichte, wie nur Jan Wagner sie schreibenkann. Aber jetzt umfassen sie eine Spannweite der Sujets, der Einfälle und Tonfälle, die diejenige seiner früheren Bände noch übertrifft, und zeigen einen außergewöhnlichen Dichter auf der Höhe seiner Kunst. (Heinrich Detering)

Judith-Zander_manual-numerale

Judith Zander:
manual numerale. dtv 2014.


manual numerale heißt der zweite Gedichtband von Judith Zander und beherbergt in formstrengem Spiel und, als Tagebuch übers Jahr geführt, Gedichte, die so viele Zeilen haben, wie der Zähler (links im Buch stehend) und der Monat (rechts stehend) vorgeben: vom 5. 1. bis zum 27. 12. Die Gedichte beider Seiten treten durchaus als Paar auf, als ein Paar, das sich ergänzend, streitend oder auch als Gegensatz begegnet. Zudem mengt die Dichterin berühmte Verse vom Barock bis zu heutigem Pop mit hinein in ihre Sprachwelten und lässt sie ihren referenziellen Schabernack treiben – auch dort, wo es ernst und traurig wird. Sind’s Liebeslieder? Ja sicher, das vor allem: (linke Seite) »… im klappentext dieses romans / stünd was von schicksalseleganz / (im fall begabter texter) / doch punktgenau erfüllt den punkt / der ödigkeit wie eingetunkt / in eine sauce aus sechsern / verkocht verdummt verwoben schwitzt / wer an die glocke glaubt bloß weil er drunter sitzt.« (rechte Seite) »als du es nanntest pervers wusste ich dass es uns glückt.« Judith Zander erweist sich als Sprachmagierin, die die Dinge mal anders bezeichnet und sie so – durchaus sanglich – wieder zum Tanzen bringt. (Thomas Wohlfahrt)

Donald-Berger_Die-waehrende-Zeit

Donald Berger:
Die währende Zeit. Englisch / Deutsch. Übersetzt von Christoph König. Wallstein Verlag 2015.


»Geschrieben im Gehen«, heißt eines dieser Gedichte; ein anderes lädt die Leser ein: »enjoy whatever life / Without pretending.« Donald Berger ist ein Nachfahre der Beat Poets und ein Urenkel von W. C. Williams – ein Nachfahre auch in dem Sinne, dass er den Abstand zwischen dieser Herkunft und der Gegenwart immer mitbedenkt. »Spontanes Gedicht, etwas überarbeitungsbedürftig« lautet eine Überschrift; die Mischung von Spontaneität mit selbstironischer Distanz ist charakteristisch. Bergers Gedichte erzählen von Bars und E-Mails, von Spaziergängen, Lektüren und Stadtlandschaften in Berlin und Baltimore, von Sex und wundersamen Wortfindungen und all den Ideen, die sich nach W. C. Williams nur »in things« finden lassen. Sie tun es in einer sicheren Balance von schlendernder Beiläufigkeit und Präzision der Wahrnehmung und des Ausdrucks. Christoph König hat Gedichte aus den letzten Büchern dieses Poeten, der bis jetzt in Deutschland zu wenig bekannt war, ausgewählt und einfühlsam ins Deutsche übertragen. (Heinrich Detering)

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Miron Białoszewski:
Vom Eischlupf. Sechs Texte in synoptischen Nachdichtungen. Mit einem unveröffentlichten Brief des Dichters. Herausgegeben von Dagmara Kraus. Verlag Reinecke & Voß 2015.


Miron Białoszewski, wer warst du, und wer bist du jetzt für deine Leser? In letzter Zeit hat es auf diese beiden Fragen gleich mehrere beherzte deutschsprachige Antwortversuche gegeben – von Białoszewskis radikal zivilistischen Erinnerungen aus dem Warschauer Aufstand Nur das was war, denen Marion Janion einen ihrer großen Essays in Die Polen und ihre Vampire (Suhrkamp 2014) widmete, über Das geheime Tagebuch seiner späten Jahre (Edition foto TAPETA 2014) bis hin zur Gedichtauswahl Wir Seesterne (Reinecke & Voß 2013). Der 1922 geborene und 1983 gestorbene Warschauer Wohnungstheaterbetreiber, Dauerbettbewohner und lustvolle Hauptvertreter der »linguistischen Poesie« erscheint seinen Lesern über alle Sprach- und Zeitbarrieren hinweg ganz nahe mit seinen herrlich höchstpersönlichen Sprachspielen. Im neuen Band bei Reinecke & Voß geschieht das nun auf angemessen unstete Weise, wenn gleich sechzehn Dichterinnen und Dichter sechs seiner Gedichte immer wieder neu übersetzen – »wehohuwabohuhn mit kraft«! Lauter verschiedene Mirons lesen! (Florian Kessler)

Yves-Bonnefoy_Die-lange-Ankerkette

Yves Bonnefoy:
Die lange Ankerkette. Aus dem Französischen von Elisabeth Edl und Wolfgang Matz. Hanser Verlag 2014.


Yves Bonnefoy ist ein großer europäischer Dichter unserer Zeit. Dieses Buch versammelt unterschiedliche Formen: Sonette, lyrische Notate, Prosa, und alte Lieblingsthemen: die Kindheit, die Dichtung, Malerei und Architektur. Bei keinem anderen Dichter finde ich eine so erhellende Verbindung von Poesie und Philosophie, Poesie und Essay, Kunst und Poesie wie bei ihm. Bonnefoy schreibt in dem Bewusstsein, dass es unmöglich ist, die Wirklichkeit zu benennen, und dass die Dichtung dem Unbewussten und dem Unerwarteten entspringt – selber eine unvorhergesehene, unerwartete Geste. Yves Bonnefoy ist jetzt zweiundneunzig Jahre alt. Und wer ihn persönlich erlebt hat, wird nie mehr seine Leichtigkeit, Heiterkeit, Eleganz vergessen, diesen nachdenklichen und fröhlichen Blick, die Gebrechlichkeit und das Einverständnis mit dem Anderen. Und weil die Übersetzer Elisabeth Edl und Wolfgang Matz ihn seit langem persönlich kennen, darum ist in ihrer schönen Übersetzung auch ein Echo vom Wesen Bonnefoys zu vernehmen. (Maria Gazzetti)

Vladislav-Chodasevic_Europaeische-Nacht

Vladislav Chodasevič:
Europäische Nacht. Russisch / Deutsch. Übersetzt von Adrian Wanner. Mit einem Nachwort von Vladimir Nabokov. Arco Verlag 2014.


Europäische Nacht ist kein Roman von heute, wie man vielleicht denken könnte. Die hier versammelten Gedichte entstanden 1907–1927, und Vladimir Nabokov pries ihren Autor als den »Stolz der russischen Dichtung«. Im Westen kaum bekannt, wurde er in der Sowjetunion totgeschwiegen, und erst unter Gorbatschow erschien eine Gesamtausgabe, die ihn sofort zum ›Klassiker‹ werden ließ. Ilma Rakusa bezeichnet ihn in der NZZ als einen eleganten Saturniker, einen pessimistischen Klassizisten und formbewussten Melancholiker, der Dualität und Distanz zu den Grundzügen seiner Lyrik machte. Seine Gedichte bringen dies alles sehr anschaulich zum Ausdruck und vor allem die Atmosphäre und das Leben in dieser schwierigen Zeit in Russland, Berlin und Paris. Die Gedichte aus Paris, seiner letzten Station, sind voll tiefer Skepsis und Desillusionund beschwören eine europäische Nacht herauf. Die dann auch kam: Chodasevič, der 1939 an Krebs stirbt, entkommt zumindest dem Konzentrationslager, in dem seine Frau umkommt. Wer diese Gedichte liest in ihrer Klarheit und Schärfe, auch die Reime, die Chodasevič meisterhaft beherrscht, der fühlt sich an- und hineingezogen in diese Sprache – auch wenn der Inhalt mitunter verstörend ist. Und er spart sich einige Geschichtsbücher. (Ursula Haeusgen)

Tadeusz-Dabrowski_Die-Baeume-spielen-Wald

Tadeusz Dąbrowski:
Die Bäume spielen Wald. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. Edition Lyrik Kabinett im Carl Hanser Verlag 2014.


Der Band Die Bäume spielen Wald ist eine Zusammenschau aus den Jahren 2005 bis 2014 des 1979 geborenen Tadeusz Dąbrowski, der immerhin bereits sechs Lyrikbände vorgelegt hat und zu den wichtigsten poetischen Stimmen Polens gehört. Dąbrowskis Gedichte sprechen von den verschiedenen Wahrheiten, die eine Sache haben kann, und davon, dass Benennungen eine Starre verursachen, die über die Momentaufnahme nicht hinauskommt: »Der Zug rast: die Bäume passieren einander wie Bewohner / einer Großstadt zur Hauptverkehrszeit. Der Zug / schleicht dahin: die Bäume gehen stumm aneinander vorbei / wie die Patienten einer psychiatrischen Klinik. Der Zug / steht: Die Bäume spielen Wald«. Mit einer Skepsis, die lächelt und durchaus ironisch oder ironisierend daher kommt, bringt Dąbrowski den Dingen ihre eigenen Tanzschritte zu Bewusstsein; ob der Vater stirbt, ob ein Bettler in Berlin bedichtet wird oder die Poesie sich selbst befragt: »die Welt unter meinem Hut«, sagt Dąbrowski, und der Leser lernt sie kennen. (Thomas Wohlfahrt)

Emily-Dickinson_Saemtliche-Gedichte

Emily Dickinson:
Sämtliche Gedichte. Englisch / Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Gunhild Kübler. Carl Hanser Verlag 2014.


Emily Dickinson, 1830–1886, ist und bleibt wohl noch für lange die bedeutendste Dichterin Amerikas. Ihre kurzen enigmatischen Gedichte ergeben, zusammen gelesen, einen schwindelerregenden Einblick in eine verwundete Seele, aber ohne Sentimentalität, ohne Schmalz und falsches Weh. Diese Wahr-Sagerin aus Amherst, Massachusetts, hat ihren Ort, eigentlich nicht einmal ihr Zimmer verlassen, eine weltliche Nonne, die sich ganz und gar auf ihre poetische Wortkunst konzentrieren konnte. Jetzt hat Gunhild Kübler das Meisterwerk einer vollständigen Übersetzung vollbracht, die in ihrem Einfallsreichtum und ihrer sprachlichen Finesse einzigartig ist. Meisterhaft! (Michael Krüger)

Lars-Gustafsson_Das-Feuer-und-die-Toechter

Lars Gustafsson:
Das Feuer und die Töchter. Aus dem Schwedischen von Barbara M. Karlson und Verena Reichel. Carl Hanser Verlag 2014.


Lars Gustafsson, der große schwedische Dichter, ist uns in Deutschland wie einer der unseren vertraut: durch seine Romane und Erzählungen, mehr noch durch seine Lyrik. In seinem Band Die Maschinen (1969) eröffnete er uns eine Welt, die zugleich phantastisch wie real war. Gustafssons Denken testet gleichsam die Wirklichkeit. Selbst der nackte Gedanke vibriert so von Sinnlichkeit. Die Welt erscheint reicher, als der gewöhnliche Blick es wahrzunehmen vermag. Das gilt auch für den neuen Gedichtband Das Feuer und die Töchter. Gustafsson evoziert den Riesenwels in einem schwedischen See ebenso wie die »Göttin der Morgenmüdigkeit«. Und wenn der gemeine Verstand vom Hobel nicht mehr weiß, als dass er alles gleich hobelt, erkennt der Dichter: »So lange wie etwas von den Dingen übrig bleibt, / ist es Oberfläche. Nichts anderes.« (Harald Hartung)

Michel-Houellebecq_Gestalt-des-letzten-Ufers

Michel Houellebecq:
Gestalt des letzten Ufers. Aus dem Französischen von Hinrich Schmidt-Henkel und Stephan Kleiner. Dumont Buchverlag 2014.


Michel Houellebecq schreibt wenig überraschend »über die B-Seite des Daseins«: Gedichte von existentiellerWucht und radikaler Ehrlichkeit, bald zart, bald hart, bisweilen banal, immer düster; schlicht und pathetisch, ganz und gar nicht zynisch, sondern resignierend; eine Ichbespiegelung, die auch die französische Poesie der klassischen Moderne reflektiert – im Wohlklang wie im Ennui. Vom Aphorismus bis zum Alexandriner reicht das Formenrepertoire, des Autors Liebe zum Reim wird von den Übersetzern nicht geteilt, was einen reizvollen Kontrast ergibt. (Daniela Strigl)

Jouni-Inkala_Der-Gedankenstrich-eines-Augenblicks

Jouni Inkala:
Der Gedankenstrich eines Augenblicks. Aus dem Finnischen von Stefan Moster. Wunderhorn Verlag 2014.


Mit Der Gedankenstrich eines Augenblicks erscheint zum zweiten Mal ein Band des 1966 geborenen finnischen Dichters Jouni Inkala in deutscher Übersetzung. Der Titel dieser Auswahl, ein Querschnitt aus sechs Bänden von 2002 bis 2012, ist gut gewählt: Der Gedankenstrich markiert den Ort dieser Gedichte – ein Innehalten im Hier und Jetzt, ein Gewahrwerden des Moments, in dem sich das Ich nachdenklich umschaut und zugleich fragt, wie es weitergehen kann. Die Gedichte führen zu diesem individuell erlebten Augenblick zwischen dem Vergangenen und Zukünftigen, in dem sich manchmal die Menschheitserinnerung vordrängt: Sie holen die Antike oder die Geburt der Gletscher genauso in die Gegenwart wie die eigene Kindheit. So setzt der Mensch sich ins Verhältnis zum Lauf der Welt und erfährt, dass er vergänglich ist wie der Moment. Inkalas Gedichte sind eine Schule der Gelassenheit, denn sie erscheinen im ruhigen Einverständnis mit dieser Einsicht, die nie thesenhaft formuliert, sondern immer konkret wird. So sehen wir Anna Achmatowa, wie sie im Angesicht des Todes zu einem Vers anhebt – ein Höhepunkt in diesem Band, der in der auch sonst beachtenswerten Reihe P im Wunderhorn Verlag erschienen ist. (Holger Pils)

Les-Murray_Aus-einem-See-von-Strophen

Les Murray:
Aus einem See von Strophen. Hundert ausgewählte Gedichte. Aus dem australischen Englisch von Margitt Lehbert. Mit einem Nachwort von Thomas Poiss. Edition Rugerup 2014.


Das Werk Les Murrays ist dank der Übersetzerin Margitt Lehbert hierzulande seit eh und je gut sichtbar; dennoch ist es wunderbar, dass der große Australier nun höchstpersönlich hundert ihm wichtige Gedichte in einem Band zusammengeführt hat, der wie stets die Widmung »To the Glory of God« trägt und fast lückenlos dessen irdische Schöpfungen preist. Murray, der sich selbst als »Kopf bauer« bezeichnet und seit den achtziger Jahren wieder auf der Kindheitsfarm in Bunyah, New South Wales, lebt, hat ein Faible für das Bodenständige, auch Derbe; seine Gedichte sind überbordend und sinnlich, nutzen das gesamte Vokabular des Englischen und sind dabei vor allem dies: eine Feier der Welt. Wer sie liest, fährt durch Sägewerkdörfer, trifft auf Peitschenvirtuosen, Kühe am Schlachttag und zahlreiche Vögel, hat am herrlichen »Traum, für immer Shorts zu tragen« teil – und wird sich bei der nächsten bärtigen Motorrad-Gang, die vorbeidonnert, daran erinnern,dass es sich in Wahrheit um »Höllen-Nikoläuse« handelt. (Jan Wagner)

Edith-Soedergran_Finnlandschwedische-Literatur-der-Avantgarde

Edith Södergran / Elmer Diktonius / Rabbe Enckell / Gunnar Björling / Henry Parland:
Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde. Schwedisch / Deutsch. Herausgegeben und übersetzt von Klaus-Jürgen Liedtke. 5 Bände in Kassette. Kleinheinrich Verlag.


Auf einem ärmlichen Fleckchen Erde in Karelien, unweit einer russischen Holzkirche mit grünen Zwiebelkuppeln, entstand 1916 die große Weltpoesie des Nordens. In ihrem karelischen Heimatdorf Raivola schloss die damals 24jährige Edith Södergran ihren bildmächtigen Gedichtband Dikter ab. Edith Södergran ist nun die Portalfigur der von dem Dichter und Übersetzer Klaus-Jürgen Liedtke herausgegebenenund auch komplett (!) übersetzten fünf bändigen Anthologie Finnlandschwedische Literatur der Avantgarde,einer editorischen Großtat, die uns fünf große Poeten der skandinavischen Moderne erschließt. Allein schon durch die bibliophile Ausstattung der Leinenbände, die mit der gewohnten Sorgfalt vom Verleger Josef Kleinheinrich gestaltet wurden, gehört diese durchweg Original wie Übersetzung präsentierende Anthologie zu den größten poetischen Ereignissen der letzten Jahre. (Michael Braun)

Danica-Vukicevic_Schamanin

Danica Vukićević:
Schamanin. Serbisch / Deutsch. Übersetzt von Matthias Jacob. Drava Verlag 2014.


»In Gedichten wende ich mich an jemanden – unklar ist / an wen.« Das Buch Schamanin beginnt karg, als begänne es am Ende der Dichtung wie von Neuem. Und baut sich dann auf. Wir lesen eine ars poetica, die in extremer Schräglage wider Erwarten jede Stabilität findet. Die Gedichte sind realistisch, und sie sind sehr gut. Es braucht Mut und Kraft, all das zu halten, es heranzubringen, und zum Schwingen zu bringen. Indem ich auf den Band Schamanin von Danica Vukićević hinweise, möchte ich zugleich das Programm TRADUKI preisen, an dem Albanien, Bosnien und Herzegowina, Bulgarien, Deutschland, Kosovo, Kroatien, Liechtenstein, Mazedonien, Montenegro, Österreich, Rumänien, die Schweiz, Serbien und Slowenien beteiligt sind und in dessen Lyrikreihe zuletzt auch großartige Bücher von Lidija Dimkovska, Miodrag Pavlović, Marko Pogačar in deutscher Übersetzung erschienen sind. Wenn Sie neue Lyrik entdecken wollen, schauen Sie doch einmal dort nach! (Monika Rinck)