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Der Körper meiner Zeit 
Kurt Drawert liest aus seinem Langgedicht

„Wer erst einmal Eingang in dieses Buch gefunden hat, wird es als eines der ergiebigsten Werke der deutschen Gegenwartslyrik erfahren, als ein Vademecum für geplünderte Herzen.“ (Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20. April 2017)

„Der Körper meiner Zeit“ ist ein Langgedicht in fünf Teilen, eine fortlaufende lyrische Bewegung markierend, die die Jahreszeiten, bestimmte Orte und Themen miteinander verknüpft, das Begehren, die Liebe, das Nichts und den Tod.

Und wie immer bei Drawert, die Möglichkeit des poetischen Sprechens überhaupt. In erzählerisch weit ausholenden Versblöcken, in freier oder gebundener Rede, melancholisch, ironisch oder sarkastisch, bildstark und reflektierend, wird aus diesem Körper der Sprache ein Körper der Zeit. Er nimmt die Verwerfungen des Gegenwärtigen auf wie die Sehnsucht nach Dauer und Anwesenheit des sprechenden, lyrischen Ichs. Ein starkes Motiv ist die Trauer um eine scheiternde, große Liebe, der im Innersten widerfährt, was auch in der Welt ist.

Fritz J. Raddatz, der Teile des Gedichts kannte, schrieb: „Kurt Drawert ist es gelungen, in makelloser Sprache, in brennenden Bildern zu bannen, was unser aller Existenz ausmacht: das Elend der Suche nach Glück.“ Beigeordnet ist eine Serie von Schwarz-Weiß-Fotos, die den Blick vom Schreibtisch auch zu einer Topographie des Textes werden lässt: „Blicke auf nichts“.

Kurt Drawert, geboren 1956 in Hennigsdorf bei Berlin, lebt als Autor von Lyrik, Prosa, Dramatik und Essays in Darmstadt, wo er auch das Zentrum für junge Literatur leitet. Bei C.H.Beck erschienen der Roman „Ich hielt meinen Schatten für einen anderen und grüßte“ (2008), die gesammelten Gedichte „Idylle, rückwärts“ (2011), „Schreiben. Vom Leben der Texte“ (2012) und „Was gewesen sein wird. Essays 2004 – 2014“ (2015). Für seine Prosa wurde Drawert ausgezeichnet u. a. mit dem Preis der Jürgen-Ponto-Stiftung, dem Uwe Johnson-Preis und dem Ingeborg-Bachmann-Preis, für seine Lyrik u. a. mit dem Leonce-und Lena-Preis, dem Lyrikpreis Meran, dem Nikolaus-Lenau-Preis, dem Rainer-Malkowski-Preis, dem Robert-Gernhardt-Preis und zuletzt dem Lessing-Preis 2017.

Dr. Martin Hielscher, geboren 1957, Verlagslektor C.H. Beck Verlag München, Autor, Kritiker, Übersetzer und Honorarprofessor an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, führt durch den Abend.

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Weitere Pressestimmen zu dem Band:

»Ein Poem, das seinesgleichen sucht; in der zeitgenössischen Lyrik steht es jedenfalls einsam da, zugleich an vorderster Front: Kurt Drawert hat eines seiner schönsten Gedichte, sein Heimatgedicht C-Dur (nach zwei Jahrzehnten) wieder aufgenommen, unter den neuen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen einer kritischen Revision unterzogen und schließlich mächtig ausgebaut, und zwar fulminant.« Johann Holzner: »Ein neues Wintermärchen. Kurt Drawert Gedicht Der Körper meiner Zeit«, literaturkritik.de

»Kurt Drawert gelingt in seinem sechzigsten Jahr etwas, was große Dichtung auszeichnet: Eigene Befindlichkeiten stimmig mit den mondialen Aporien unserer Zeit zu verknüpfen, die Ich- und Welträtsel mit genauer Reflexion der schwierigen Relationen zwischen Ich, Sprache und Welterkenntnis. Hinzu tritt, dass das unausweichliche Parlando des Langgedichts wieder und wieder über die Dichtheit des semantischen Netzwerfens hinwegtäuscht. Oder wie der Sprecher resümiert: ›Auch wenn am Ende ales endet am Anfang, folgt jeder Weg/anderen Wegen wie die Linien den Linien im zersplitterten Glas.‹« Peter Geist: »Linien im zersplitterten Glas. Zu Kurt Drawerts Der Körper meiner Zeit«, in: TEXT + KRITIK, Nr. 213, Januar 2017

An den Bosporus

XLIX

Die Wege der Trennung sind unerbittlich und schneller als alle
Geburt. Was von Tag zu Tag und mit jedem Gang durch die
Gassen und über die Märkte und mit jedem Verlangen, das fort-
während unerfüllt bleibt, hinzukam, erweist sich als Plunder,

sobald die Blicke der Leidenschaft stumpf sind wie eine rostige
Klinge, die im Kehricht liegt. Nicht ich, es handelt ein anderer
und wirft alles weg. Die Schuhe des Sommers, Notizen, auf die
Ränder einer Zeitung geschrieben, Gebrauchsgegenstände, halt- 

barer als das eigene Leben, würden sie bleiben, wo sie jetzt sind.
In Kisten trage ich zur Tonne, was bis eben unverzichtbar war.
Wenn das Leben, das sich immerwährend Dauer wünscht, zur
Vergangenheit wird, ist jede Abfallgrube augen-/blicklich voll. 

Am Bosporus stehen die Angler so nah beieinander, wie keine
Sardelle auf dem Teller liegt. Wer Glück hat, fängt nichts und
kann länger träumen. Verkäufer bieten Mais an und Reis und
heiße Kastanien. Wilde Hunde wärmen sich am Feuer, das sich 

durch weiche Scheite Holz, zur Pyramide aufgeschichtet, auf-
wärts und nach oben trägt. Im Wellenschlag gegen die Mole
treibt seltenes Treibgut und zerschellt. Der Fluss ist eine Karto-
graphie der Begierde, eine Dublette aller Verschwendung, und

die Requisiten ziviler Betäubung gehen mit ihm, wie das Fieber
einem kranken Körper folgt. Das Meer und seine Strände mit
ihren angeschwemmten Über-/schüssen, Rest-/beständen, ihrem
Bruch, sind schon die Erzählung der Welt, die sich zu keiner

Ordnung fügt. Wirr und verstoßen wie ausgesetzte Tiere, die zu
frieren beginnen im Herbst, gerät in den Strudel und versinkt, was
von Natur aus zu schwer ist. Das Leichte aber ist schon gebro-
chen, getrennt von seinem Ursprung, dem Ganzen. Oder es fliegt,

weil es dem Himmel näher als der Erde ist, der Liebe als Wesen
des Geistes tiefer verbunden als jeder Umarmung, die immer in
Ent-/zweiung an sich selber scheitert. Was sich zu nah kommt,
verliert sich zu früh aus den Augen. Nur Abstand schafft Nähe, 

nur im Alleinsein hat Zweisamkeit Bestand, weil sie so fern aller
Zerstörungen bleibt. Auch das eine Wahrheit des Wassers: dass
es auflöst und neu verbindet, scheidet und fügt. Es sind Zeichen,
die mit den Wellen verschwinden, so wie die Dinge mir noch

einmal in den Händen liegen, ehe die Sonne sinkt in den Fluss,
wenn es soweit ist. Das alles ist Dispersion, Zer-/streuung von
Gewissheit und System. Und das ist auch, was bleibt: das Nichts
und seine Ewigkeit. Dann stürzte ich über die Treppe aus Stein

auf die Steine, schlug auf, wo der Ab-/fall schon lag, der mir in
Kisten aus den Händen fiel. Vor Kilyos, erfahre ich später, ver-
sank ein schwarzer, brüchiger Kahn, und es ertranken, während-
                                                                   dessen, die Fremden. 

Kurt Drawert,
aus: Der Körper meiner Zeit (C.H. Beck 2016).

Gastveranstaltung

Der Körper meiner Zeit

Kurt Drawert
liest aus seinem
Langgedicht
(C.H.Beck 2016)

Moderation:
Dr. Martin Hielscher

Montag, den 22.10.2018
20:00 Uhr

Lyrik Kabinett
Amalienstr. 83a
80799 München
(U3/U6 Haltestelle Universität)

Eintritt: € 8 / erm. € 6
Mitglieder Lyrik Kabinett:
freier Eintritt
Abendkasse, freie Platzwahl